September: Migration in Comics – Comics in der MigrationForschungsprojekt zur Geschichte eines Mediums im Kontext des Ankommens

Dieser Ausschnitt aus einem aktuellen Comic des hessischen Justizministeriums zeigt den ersten Ausgangspunkt meiner Forschungen: Comics werden heute unter anderem dazu verwendet, gesellschaftliche Spielregeln zu vermitteln und zu zeigen, was in Deutschland erlaubt oder - wie in diesem Beispiel im Hinblick auf Kinderehen - was verboten ist. Der Comic „Fit für den Rechtsstaat“ wird seit 2016 in so genannten Rechtsstaatsklassen eingesetzt, um Zugewanderten Normen und Werte der Bundesrepublik nahe zu bringen. Der Staat kommuniziert also in pädagogischen Kontexten über Texte und Bilder mit den Migrant*innen.

Einen zweiten, ganz anderen Ausgangspunkt meiner Forschungen zeigt dieses Bild: Comics können Alltagserfahrungen und Wahrnehmungen von Migrant*innen über ihr Leben in Deutschland wiedergeben. Hier geht es um das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Esskulturen. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Projekten, die wie das „Alphabet des Ankommens“ den Comic als Medium nutzen, um die Perspektiven von Zugewanderten zu zeigen.

Daraus entstand mein Forschungsinteresse: Sind Bildergeschichten von und für Migrant*innen in Deutschland eigentlich etwas Neues oder haben sie eine längere Geschichte? Da sich bislang noch niemand mit dieser Frage beschäftigt hat, bin ich auf die Suche gegangen...

…und fündig geworden. Wie diese Abbildung deutlich macht, existieren schon länger Comics, die die Erfahrungen von Zuwander*innen aufgreifen. In dem Ausschnitt aus dem Heft „Hüseyin im Paradies“ von 1985 ist ein gefesselter türkischer Arbeitsmigrant zu sehen, für den deutsche Arbeitgeber wie für eine Ware Geld bieten. Seit Mitte der 1950er Jahre waren „Gastarbeiter*innen“ aus unterschiedlichen Mittelmeerländern in die Bundesrepublik gekommen; mindestens seit den 1970er Jahren berichteten sie in Comics über ihr Leben. Daraus ergeben sich für mich folgende Fragen: Worum ging es in diesen Bildergeschichten? Spielten Arbeit, Alltag, das Zurechtkommen in der neuen Heimat oder auch Ausgrenzung und Rassismus eine Rolle? Wer waren die Zeichner*innen? Und wurden Bildergeschichten auch wie heute in staatlich geförderten pädagogischen Kontexten eingesetzt? Mit meiner Forschung möchte ich die historischen Verbindungslinien wieder sichtbar machen.

In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig, Zeichnungen nicht als Illustrationen zu betrachten, sondern sie mit den Methoden der Comicforschung zu analysieren. Mit den nächsten Bildern versuche ich zu zeigen, was das heißt.

Auf diesem Bild aus dem Band „Gastarbeiter“ von 1977 ist ein Flur des Frankfurter Arbeitsamts zu sehen. Es wirkt wie eine dokumentarische Momentaufnahme, ohne Sprechblasen oder andere comictypische Elemente. Die Figuren hingegen sind in einem einfachen, „naiven“ Stil gezeichnet. Das erzeugt den Eindruck, die „Gastarbeiter“ würden nicht richtig in ihre deutsche Umgebung passen und irgendwie fremd bleiben.

Comics wurden in den 1970er und 1980er Jahren etwa in staatlich geförderten Deutschkursen speziell für „Gastarbeiter*innen“ eingesetzt. Das Bild zeigt ein Arbeitsblatt der Volkshochschule mit großen, leeren Sprechblasen. Sie waren als Aufforderung gedacht, auf Deutsch zu reden oder zu schreiben. Mit solchen Zeichnungen reagierte man darauf, dass es zuerst gar keine auf die Arbeitsmigrant*innen zugeschnittenen Lehrmaterialien gab. Comics konnten in dieser Situation unkompliziert hergestellt und eingesetzt werden.

Ich möchte herausfinden, wie die praktische Umsetzung im Unterricht, aus Sicht ehemaliger Kursleiter*innen und Teilnehmer*innen, aussah. Dafür möchte ich sowohl mit Zeichner*innen über ihre damalige Arbeit als auch mit „Gastarbeiter*innen“ sprechen, um zu erfahren, wo und wie ihnen Comics begegnet sind. Die Untersuchung der Comics soll im Projekt also durch Interviews sowie durch Bibliotheksrecherchen unter anderem im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ergänzt werden.

Außerdem interessiert mich, aus welchen weiteren Gründen man Comics in Sprachkursen für „Gastarbeiter*innen“ einsetzte. Denn auch die seit Ende der 1970er Jahre in Verlagen erschienenen Deutschlehrbücher für Erwachsene enthielten viele Comics, wie dieser Ausschnitt aus „Deutsch aktiv“ zeigt. Vermutlich spielte eine Rolle, dass Bilder über Sprachgrenzen hinweg als universell verständlich angesehen wurden. Und anders als eine Fotografie kann sich eine Zeichnung auf bestimmte wesentliche Aspekte konzentrieren und anderes, zum Beispiel wie den Hintergrund in Bild 4, weglassen. Diese ersten Annahmen möchte ich im Projekt überprüfen und ergänzen.

Diese Abbildung aus dem Deutschlehrwerk „Feridun“ für türkische „Gastarbeiter*innen“ von 1977 zeigt, dass Comic-Zeichnungen auch benutzt wurden, um ein Spannungsverhältnis zwischen Text und Bild zu erzeugen. Damit wollten die Verfasser die Arbeitsmigrant*innen dazu bewegen, über ihre eigene Situation in Deutschland nachzudenken und eventuell selbst aktiv zu werden. Ich möchte deshalb im Forschungsprojekt die gesellschaftliche Perspektive und Bedeutung von Comics für und von „Gastarbeiter*innen“ in der Bundesrepublik berücksichtigen. Inwiefern wollten und konnten die Bildergeschichten ein Mittel emanzipatorischer politischer Bildung sein? Die Untersuchung der Vergangenheit kann also nicht nur auf Erfahrungen und Traditionen aufmerksam machen, sondern vielleicht auch ungenutzte Potentiale der Beschäftigung mit Comics und Migration in der Gegenwart aufzeigen.