Was ist Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung?
Selbstverständnis
Bildungspolitik und Bildungswesen sind von gesellschaftlichen Entwicklungen, Erwartungen und politischen Zielen beeinflusst. Für die Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung gilt dies in verstärktem Maß, ihre Geschichte ist ein Spiegelbild der Einstellungen der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen. Bemühungen um die Verbesserung der Lebenslagen behinderter Menschen stoßen noch immer auf Begrenzungen solidarischen Handelns, die der Gleichberechtigung und Integration entgegenstehen. Pädagogik bei behinderung und Benachteiligung bedarf deshalb des sozialpolitischen und bildungspolitischen Engagements und der Wahrnehmung der Interessen der von Behinderung und Benachteiligung betroffenen Menschen.
Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung ist in erster Linie Pädagogik und hat zum Ziel, die Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen unter erschwerten Bedingungen zu unterstützen. Sie hat dabei den Auftrag, die umfassende Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit einem besonderen Bedarf an pädagogischer Unterstützung ohne Ausnahmen zu verwirklichen und ihr Bildungsrecht durchzusetzen. Dieser Anspruch kennzeichnet die Behindertenpädagogik seit ihren Anfängen, doch bis in die jüngste Zeit gilt es ihn immer wieder gegenüber Bewertungen wie "bildungsunfähig", "eingliederungsunfähig" durchzusetzen. Die Schulpflicht für alle Kinder mit Behinderung ist zum Beispiel erst in den 60er Jahren auf dem Gebiet der alten Bundesländer und erst seit 1990 im wiedervereinigten Deutschland umfassend und ausnahmslos durchgesetzt worden.
Eine stetige Verbesserung sozial- und bildungspolitischer Rahmenbedingungen führte zum Ausbau des Bildungswesens seit den 60er Jahren. Erfolgte dieser Ausbau zuerst separiert in eigens geschaffenen Sonderinstitutionen, von den Kindergärten über Schulen bis zu den berufsbildenden Einrichtungen, so stehen nun immer mehr Fragen der gemeinsamen Bildung und Erziehung im Vordergrund: Neben den Sonderschulen haben sich zahlreiche Formen sonderpädagogischer Förderung in allgemeinen Schulen auf kooperativer oder integrativer Basis, aktuell auf inklusiver Basis entwickelt. Die Inklusion in Kindergärten ist weit vorangeschritten, ebenso wie der Ausbau gemeindenaher Wohn- und Arbeitsformen, von Freizeit- und Erwachsenenbildungsangeboten.
Behinderungen entstehen aus der Wechselwirkung individueller Beeinträchtigungen mit sozialen Faktoren und Lebensbedingungen. Individuelle Beeinträchtigungen können in einzelnen oder mehreren Bereichen auftreten und haben immer ihre ganz spezifische Ausprägung. Bereiche der Beeinträchtigung, die nach den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) von 1994 als "Förderschwerpunkte" bezeichnet werden, können sein:
- das Lern- und Leistungsverhalten
- die Sprache, das Sprechen, das kommunikative Handeln
- die emotionale und soziale Entwicklung
- die kognitive Entwicklung
- die körperliche und motorische Entwicklung
- das Hören, die auditive Wahrnehmung
- das Sehen, die visuelle Wahrnehmung
- die körperliche und seelische Verfassung angesichts einer lang andauernden Krankheit
Die Ursachen für Beeinträchtigungen sind vielfältig und können in individuellen psychischen oder physischen Problemen ebenso wie in Lebensverhältnissen oder Bedingungen des sozialen Umfelds liegen. Ausmaß, Dauer und Schwere der Beeinträchtigungen sind deshalb relative und dynamische Faktoren, die vom Wechselspiel zwischen individuellen und sozialen Momenten beeinflusst sind. Ob sich aus Beeinträchtigungen lang andauernde, umfängliche Lebenserschwernisse im Sinne einer Behinderung ergeben, hängt neben den psycho-physischen Voraussetzungen im Wesentlichen von den zur Verfügung stehenden Unterstützungsangeboten und von den sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen, von Erwartungen, Normen und Werten ab. Die soziale Dimension der Behinderung zeigt sich in der eingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe behinderter Menschen und in der Abhängigkeit ihrer individuellen Lebenssituation von sozialen Faktoren.
Behinderungen wirken sich nach der je unterschiedlichen individuellen Lebenssituation in den verschiedenen Lebensbereichen und Lebensphasen ganz unterschiedlich aus und werden subjektiv unterschiedlich erlebt und bewältigt. "Behinderung" ist ein komplexes, relatives und mehrdimensionales Bedingungsgefüge zwischen Individuen und ihrer näheren und weiteren sozialen Umwelt. Der daraus resultierende Bedarf an sonderpädagogischer Förderung und Unterstützung richtet sich deshalb auf die Austauschprozesse zwischen einer Person und ihrer Umgebung, durch die Erschwerungen und Behinderungen des Lernens und der Bildung entstehen. Die Gestaltung förderlicher Erziehungssituationen in schulischen und außerschulischen Handlungsfeldern und die Unterstützung der Lebensbewältigung und sozialen Eingliederung tritt gleichrangig neben den Unterricht und die besondere, individuell abgestimmte didaktisch-methodische Unterstützung von Kindern und Jugendlichen bei Behinderung und Benachteiligung.
Aufgabenfelder der Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung
Förderung bei Behinderung und Benachteiligung findet lebenslaufbegleitend und in allen Lebensphasen, an besonderen und regulären Orten von Erziehung, Partizipation und Bildung statt. Im Mittelpunkt der Aufgaben stehen die Unterrichtung und Erziehung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die besonderer pädagogischer Förderung bedürfen. Didaktische, methodische und diagnostische Aufgaben sind zentral, hinzu kommen Beratung, soziale Unterstützung, Öffentlichkeitsarbeit und Unterstützung der Partizipation im weiten Sinn. Die letztgenannte Aufgabe bezieht auch Familien und Angehörige von Menschen mit Behinderung mit ein. Förderung der Selbsthilfe, der sozialen Kompetenzen und der Partizipation, Orientierung an und Respektierung von individuellen Bedürfnissen und Perspektiven sind dabei Grundlagen des Handelns. Gegenüber dem traditionellen Aufgabengebiet in Sonderschulen oder anderen, vor- nach- und außerschulischen Einrichtungen ist in den letzten Jahren eine Wandlung der wahrzunehmenden Aufgaben festzustellen:
- Die pädagogische Förderung und Therapie von Kindern mit Behinderung oder von Kindern, die von Behinderung bedroht sind, ist im Früh- und Elementarbereich (0-6 Jahre) ein wichtiges Aufgabenfeld geworden; im Hinblick auf präventive Maßnahmen, etwa bei tauben und hörbehinderten Kindern, bei blinden und sehbehinderten Kindern oder bei Kindern mit Beeinträchtigung in der Sprache.
- Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung leistet Beratung, Unterstützung und Eingliederungshilfe im Rahmen der sozialen und beruflichen Rehabilitation bei Menschen mit Behinderung in allen Lebensphasen. Ihr obliegt eine Fülle von unterschiedlichen Aufgaben im pädagogischen, andragogischen (Erwachsenenbildung) und geragogischen (Bildungsfragen und -hilfen für ältere Menschen) Bereich, etwa Sehhilfenberatung bei älteren Menschen mit Sehbehinderungen oder die Förderung kommunikativer und sozialer Kompetenzen von ertaubten Erwachsenen.
- Diagnose und Beratung bei Auffälligkeiten, Störungen und Behinderungen sind bei Lehrer:innen, vor allem auch unter dem Gesichtspunkt der Prävention, von ebenso großem Gewicht wie die unterrichtliche Tätigkeit, etwa bei Kindern mit emotionalem und sozialem Förderbedarf.
- In allen neueren Schulgesetzen der Bundesländer ist unter dem Einfluss der UN-Behindertenrechtskonvention und des Inklusionsgedankens die allgemeine Schule als der primäre Lernort aller Kinder definiert. Die Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen findet dementsprechend zunehmend in allgemeinen Schulen statt. Die Kooperation mit anderen Lehrkräften und weiterem Fachpersonal, das an der Unterstützung, Förderung und Therapie in der allgemeinen Schule beteiligt ist, wird immer bedeutsamer.
- Dementsprechend sind Konzepte der Integration/Inklusion von Menschen mit Behinderng und/oder bei Benachteiligung in Schule und Gesellschaft integraler Bestandteil der Lehr- und Forschungsaktivitäten aller Studienschwerpunkte des Arbeitsbereichs.
Studieninhalte und Interdisziplinarität
Die Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung war an den meisten Studienstätten der Bundesrepublik systematisch nach so genannten sonderpädagogischen Fachrichtungen ausdifferenziert, die die neun Behinderungsarten bzw. die traditionellen Sonderschultypen widerspiegeln. Neuerdings findet bundesweit eine Restrukturierung universitärer Strukturen nach den in den KMK-Empfehlungen von 1994 vorgeschlagenen Förderschwerpunkten statt. Der Hamburger Arbeitsbereich sieht darin eine neuerliche Stärkung einer überholten institutionellen Orientierung universitärer Ausbildung und folgt deshalb dieser Entwicklung ausdrücklich nicht.
Die universitäre Gliederung in Hamburg unterscheidet nunmehr "Studienschwerpunkte", die sich über die wissenschaftssystematische Auseinandersetzung mit Beeinträchtigungen und Behinderungen und den ihnen folgenden individuellen Problemlagen und pädagogischen und sozialen Unterstützungsnotwendigkeiten definieren. Formen institutioneller Reaktionen des Unterrichtens und Förderns sind damit keine vorrangigen universitären Gliederungsgesichtspunkte.
Der Hamburger Arbeitsbereich gehört traditionell zu den wenigen universitären Abteilungen der Bundesrepublik, in denen nach vormaliger Terminologie acht von neun sonder- bzw. behindertenpädagogischen Fachrichtungen vertreten sind, die mit dem neuen Studienplan zu sechs an individuellen Beeinträchtigungen orientierten Studienschwerpunkten zusammengefasst sind. In der Praxis haben Menschen mit Behinderung aber häufig mehrere Beeinträchtigungen, so dass es sich um heterogene Personenkreise mit unterschiedlichen Bedürfnislagen handelt. Die Mehrdimensionalität von Behinderungen und Benachteiligungen sowie die Komplexität der individuellen Problemlagen erfordern Interdisziplinarität in der Pädagigk bei Behinderung und Benachteiligung, im Studium bzw. der Wissenschaft ebenso wie in der Praxis. Als wichtige Nachbardisziplinen sind Teilgebiete der Soziologie, Psychologie, Medizin, aber auch von Recht und Philosophie zu studieren. In der Praxis entspricht dem die Kooperation mit medizinischem, therapeutischem, sozialpädagogischem Fachpersonal. Über die didaktischen, diagnostischen und methodischen Kompetenzen hinaus sind Kenntnisse in Beratung, sozialer Unterstützung und Eingliederung, in Kooperation und Organisation wichtig. Ohne Reflexion der Theorie wie der Praxis bleiben Kompetenzen und Inhalte unverbunden nebeneinander stehen. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Zugängen zum Erklären und Verstehen von Praxis, mit unterschiedlichen Zielfragen und Menschenbildern, mit Werten und gesellschaftlichen Normen ist deshalb eine unverzichtbare Grundlage des Studiums.
Zur Geschichte der Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung in Hamburg
Die ersten Entwicklungsschritte...
1919
Gründung der Universität Hamburg
1921
Examen für „Lehrer für Sprachkranke“ im Rahmen der Mittelschullehrerprüfung
1924
Examen für „Hilfsschullehrer“
1925
Erste Eingabe zur Errichtung einer Professur für Heilpädagogik; tatsächliche Einrichtung 1965
1929
Fritz Rössel wird Wissenschaftlicher Rat für Heilpädagogik am Seminar für EW; erste Etablierung des Faches an einer deutschen Universität
1935
„Einheitliche Ausbildung der hamburgischen Lehrer für Taubstumme, Schwerhörige und Sprachkranke“; 1938 zugunsten der reichseinheitlichen Ausbildung in Berlin aufgelöst
1947
Zwei-Wege-Institutionalisierung der Pädagogik: „wissenschaftliche“ Vertretung durch universitäre Lehrstühle (Gymnasiallehrerausbildung, Promotion, Habilitation) am Seminar für EW; „halbpraktische“ Ausbildung für alle anderen Lehrämter am Pädagogischen Institut.
Abteilung IV des PI: Sozial- und Heilpädagogik
Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für das Lehramt an Sonderschulen für Gehör- und Sprachgeschädigte (1947), Hilfsschulen (1948), Blinden- und Sehschwachenschulen (1948)
1964
Hierarchie von Sonderschullehrern („Blindenoberlehrer“) und Hilfsschullehrer wird beseitigt; einheitliches Lehramt wird geschaffen
1969
Der Fachbereich Erziehungswissenschaft entsteht durch Ausgliederung aus der Philosophischen Fakultät, PI und Seminar für EW werden zusammengefasst und in Fachausschüsse unterteilt, die Dozenten und Studienleiter des PI zu Professoren. Erhebliche Stellenausweitung im FB mit zunehmender Differenzierung; der sog. Mittelbau läuft aus.
Fachausschuss 9: Sonderpädagogik
1973
Etablierung der 9 Fachrichtungen analog zum Sonderschulwesen. Einrichtung des Grundständigen Studiums neben dem Aufbaustudium; „Prüfungsordnung für die Erweiterten Lehrämter Grund- und Mittelstufe unter Einschluss sonderpädagogischer Fachrichtungen“ als Verzahnung mit der allgemeinen Lehrerbildung. Die Verbindung von Gehörlosen-, Schwerhörigen und Sprachbehindertenpädagogik („Dreier-Block“) wird nach Jahrzehnten für das Grundständige Studium aufgegeben, die beliebige FR-Kombination eingeführt.
Hamburg ist „die einzige Studienstätte für Behindertenpädagogik, die alle Fachrichtungen anbietet und hierbei überregionale Ausbildungsaufgaben wahrnimmt“. Ebenfalls als einzige sonderpädagogische Studienstätte baut Hamburg keinen Diplom-Studiengang auf.
1982
Die derzeit geltende LPO tritt in Kraft, das Lehramt an Sonderschulen ist nun separat („systembedingte Differenzierung“), die seit 1968 bestehende PO für das Aufbaustudium bleibt bestehen.
1984
Die Fachausschüsse werden in Institute überführt, der faktischen Verselbständigung Rechnung getragen („Ende des integrativen Optimismus“).
Institut 5: Behindertenpädagogik
2005
Gründung der Fakultät IV: Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft
Fachbereich 1: Erziehungswissenschaft
Fachbereich 2: Schulpädagogik, Sozialpädagogik, Behindertenpädagogik und Pädagogische Psychologie
Die Studiengänge werden in das BA/MA-Modell überführt. Hamburg erhält einen BA EW mit dem Schwerpunkt Behindertenpädagogik. Die beliebige Fachrichtungswahl im Lehramt wird aufgegeben, ein neuer „Dreierblock“ und ein Orientierungsmodul zu den nun 7 Studienschwerpunkten wird für alle verbindlich eingeführt.
September 2020
Umbenennung in "Arbeitsbereich Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung" (PBB)
Ehemalige Dozenten und Studienleiter
Prof. Dr. Georg Antor
Prof. Dr. Walter Bärsch
Prof. Dr. Dr.h.c. Ulrich Bleidick
Prof. H. Claußen
Prof. Dr. Michael Dieterich
Dr. Walter Dohse
Prof. Dr. Sieglind Ellger-Rüttgardt
Prof. Dr. Herbert Goetze
Prof. Dr. Burkhard Günther
Prof. Dr. Ursula Hagemeister
Prof. Dr. Birgit Herz
Dr. Martin Herz
Prof. Dr. Thomas Hofsäss
Prof. Dr. Kurt Kallenbach
Prof. Dr. Eduard W. Kleber
Prof. Dr. Martin Kloster-Jensen
Prof. Dr. Otto Kröhnert
Dr. Hermann Meißner
Dr. Heinrich Möhring
Dr. Norbert Myschker
Dr. Joachim Neppert
Dr. Karl Paziner
Prof. Dr. Wolfgang Praschak
Dr. Barbara von Pawel
Prof. Dr. Waldtraut Rath
Prof. Dr. Gerlinde Renzelberg
Prof. Dr. Monika Rothweiler
Dr. Helmut Rünger
Dr. Günther Ruthemann
Prof. Dr. Wilfried Schley
Prof. Dr. Karl Dieter Schuck
Prof. Dr. Hans Stadler
Dr. Frieda Stoppenbrink-Buchholz
Prof. Dr. Jürgen Teumer
Prof. Dr. Alfons Welling
Prof. Dr. Hans Wocken
Dr. Franz Zeugner